Montag, 10. Juni 2013

Gefährliche Deichschutzallianzen

Dammbau in Wolmirstedt, 08.06.13
Gestern Vormittag versetzte eine Meldung die Republik in Alarmbereitschaft: 
+++ Anschläge auf Deiche befürchtet +++

 Die Polizei in Sachsen-Anhalt hat die Bewachung von Deichen verstärkt und bittet die Bevölkerung und alle Fluthelfer um Mithilfe. Wie uns Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht bestätigte, haben Autonome im Internet zu Anschlägen auf gefährdete Deiche aufgerufen. 

 „Wir haben deshalb auch die Luftraumüberwachung erhöht, wir bitten jeden sofort verdächtige Personen zu melden, die an Deichen sind,“ sagte Stahlknecht. Er nimmt die Warnungen sehr ernst, alle verfügbaren Kräfte sind im Einsatz. [1]
Unbekannte (oder ein einzelner Unbekannter?) hatten zuvor unter dem Label "Germanophobe Flut-Brigade" Bekennerschreiben an mehrere Medien- und Presseadressen versendet und den entsprechenden Text auch bei indymedia publiziert, wo er allerdings nach kurzer Zeit von einem Moderator entfernt worden [2], aber weiterhin als Sekundärquelle einsehbar ist [3].

Allerdings ist das "Bekennerschreiben" alles andere als seriös und lässt einige Fragen offen: warum ein "Bekennerschreiben", das sich nicht ausschließlich zu vergangenen Taten bekennt, sondern auch zukünftige Aktionen ankündigt, deren "Erfolg" durch die Ankündigung ja ad absurdum geführt wird? Warum wird, wie nur in rechten oder rechtskonsverativen Kreisen üblich, von "Germanophobie" (Vgl. "Deutschenfeindlichkeit") gesprochen? Dieser Begriff taucht in linken Zusammenhängen schlichtweg nicht auf. Warum bleibt die sonst für die meisten linken Texte übliche Analyse der gesellschaftlichen Zustände inklusive des zumeist intellektuellen Duktus' aus? Auch der inflationäre Gebrauch von "sz" statt "ss" und die fehlende Stringenz beim Gendern deutet daraufhin, dass wir es hier mit keinem Text aus dem "linken  Lager" zu tun haben, wie es Spiegel online u.a. konstruierten möchten - übrigens im Gegensatz zur Pressemitteilung des Stahlknecht-Ministeriums, das gar keinen politischen Zusammenhang nennt [4] - sondern mit einem "Hoax" zu tun haben [5]. Angesichts der Tatsache, dass bei indymedia Artikel von jeder*jedem verfasst und veröffentlicht werden können, liegt die Vermutung nahe, dass das Schreiben ein gezielter politischer Akt gewesen sein könnte, um die Linke zu diskreditieren und zu kriminalisieren.

"Diese Schweine haben Auschwitz verdient"

 

Als Reaktion auf das "Bekennerschreiben" wütet nun ein regelrechter Online-Mob auf den einschlägigen Hochwassernews-Seiten [5, 6]. Dort, so scheint es, ist ein Wettbewerb in den Disziplinen "Die kreativste Mordmethode" und "Was stellen wir mit Deichschädlingen an". Ein paar Kostproben? Ein Tumblr-Blog führt die geistigen Ergüsse dieser Menschen auf [7]

Entsetzlich, aber wahr: Es handelt sich bei den gesammelten Kommentaren nicht um das Werk einiger bedauerlicher Einzelfälle, was in solchen Zusammenhängen immer wieder beteuert wird, sondern um etliche Einzelpersonen, die teils gezielt zum Lynchen der Schuldigen, oder wen auch immer sie dafür halten würden, aufrufen.

Ganz in diesem Sinne erklärt unterdessen der aus Magdeburg stammende Bundesvorsitzende der JN, der Nachwuchsorganisation der NPD, Andy Knape, zusammen mit Michael Grunzel, Pressesprecher der NPD Sachsen-Anhalt, verheißungsvoll:
"Einem sich der Festnahme widersetzenden und zu flüchten versuchenden Dieb darf beispielsweise demnach nicht hinterher geschossen werden. Wie sich der rechtliche Rahmen bei Tätern gestaltet, die vorsätzlich Millionenwerte zerstören wollen und dabei das Leben vieler Menschen aufs Spiel setzen, sollte keiner weiteren Frage bedürfen!" (Hervorhebung durch uns) [8]
Es würde nicht verwundern, wenn sich, ideologisch gedeckt durch die beiden Statements, fortan Gruppen nach dem Vorbild von Bürgerwehren gründen würden und auf nächtlichen Patrouillen an den Deichen "verdächtig aussehende" Personen, allen voran solchen, die sie dem linken Spektrum zuordnen würden, kontrollieren, festsetzen oder schlimmeres mit ihnen veranstalten. Dem gilt es entschieden entgegenzutreten. Doch als ob das nicht schon genug harter Tobak wäre, verkündet das Innenministerium in der o.g. Pressemitteilung "An jedem Damm und  Deich in Sachsen-Anhalt patroullierten derzeit rund um die Uhr Deichwachen. Diese sind über die Krisenstäbe der Landkreise und  kreisfreien Städte sensibilisiert worden und angehalten, jegliche  Erkenntnisse an die Stäbe und Polizei unverzüglich weiterzuleiten". Als Deichwachen fungieren zurzeit auch viele Zivilist*innen. Der Presseerklärung zu Folge übernehmen diese nun also auch Aufgaben, die über den normalen Deichwachdienst hinausgehen und eigentlich dem polizeilichen Aufgabenbereich unterliegen? Diese fatale, ideologiegeleitete Aufforderung Stahlknechts ist nichts anderes als ein Angriff auf linke Politik, das rhetorische Wegbereiten und Deckunggeben der diversen Aufrufe zur Lynchjustiz und ein erneuter Anknüpfungspunkt für die Rechten, die derzeitige Lage medial für sich auszuschlachten. Zudem ist diese Reaktion alles andere als besonnen und reflektiert. Sie ist eines Innenministers unwürdig. Dieser sollte in Katastrophenzeiten mit irrationaler Terrorpanikmache und Hysterie sehr sparsam umgehen (das gilt übrigens auch für die Medien), denn die mittlerweile mindestens dreistelligen Mordaufrufe im Netz sind durchaus ernster zu nehmen, als das ominöse "Bekennerschreiben", von dem niemand weiß, woher es kommt.

Die NPD-Wahlkampftour im Katastrophengebiet

 

Dass die Hochwasserlage bereits seit einiger Zeit durch die Rechten zu PR-Zwecken instrumentalisiert wird, ist bekannt. Die Neonazis inszenieren sich als tatkräftige, tüchtige Burschen, allzeit bereit der Nachbarschaft zu helfen und solidarisch mit ihr an einem Strang zu ziehen [9]. Dass aber dieses Narrativ lediglich genutzt wird, um sich weiter in der gesellschaftlichen Mitte zu verankern und von dort aus positioniert Nationalismus und menschenverachtende Politiken weiterzuführen, dürfte auf der Hand liegen. Neonazis bleiben Neonazis, auch wenn sie noch so schön beim Deichbau - für Nazis ist Deichbau übrigens "Heimatschutz" - helfen. Und auch wenn Oberbürgermeister Trümper nun das von ihm geschossene Foto beim Händeschütteln mit Andy Knape [10] für eine "grosse Sauerei (sic)" hält [11], muss man sich fragen, warum die Nazis überhaupt derart willkommen geheißen wurden und noch immer werden, warum ihnen diese Bühne überlassen wurde und warum nicht von Anfang an - sie waren ja dank ihrer Eigenwerbung in Form von T-Shirts immer zu erkennen - die Zusammenarbeit mit den Faschist*innen versagt und unterbunden wurde.

Auch wir haben beim Sandsackfüllen und bei Deichbauarbeiten Nazis bemerkt. Uns ging es, anders als den Nazis, nicht um die Inszenierung der Tat, sondern um gelebte und praktische Solidarität mit den Menschen, die von den Überflutungen betroffen sind und sein werden. Hier gilt es zu helfen, denn die Flut verursacht asymmetrische Schäden und belastet die am Stärksten, die ohnehin schon in prekären Lebenslagen leben. Der braune Mob mag sich jetzt gern als Heldengruppe inszenieren, ist jedoch im Alltag weit entfernt von diesem Bild. Die Gleichen, die jetzt Hilfsbereitschaft mimen, sind nicht nur nach der Hochwasserkatastrophe ganz normale Menschenhasser*innen.

"Kein Fußbreit" gilt auch am Deich!


Und so spannt sich der Bogen bis zum jährlichen Aufmarsch der Nazis in Magdeburg, der inzwischen als der größte in Deutschland gilt. Hier ist es Konsens "gegen Rechts" zu sein und "Flagge" und "Gesicht" zu zeigen. Das ist gut und richtig, nur scheint dieser Anspruch nicht ganzjährlich und strikt in der täglichen politischen Praxis umgesetzt zu werden, was die bloße und risikofreie Beteuerung bedauerlicherweise zu einer Worthülse verkommen lässt [12].

Auch diesen Misstand, die Diskrepanz zwischen politischer Bekundung und Wirklichkeit, sehen wir äußerst kritisch. Die Bigotterie der fleißigen Hilfe beim Deichbau auf der einen, die immens menschenverachtenden Kommentare der bürgerlichen Mitte auf der anderen, entlarven ein weiteres Mal wie wenig die willkürliche Kategorisierung in Extreme die gesellschaftliche Realtiät widerspiegelt. Rechtes und misanthropes Gedankengut ist und bleibt ein Phänomen der Mehrheitsgesellschaft und ist nicht nur auf die sogenannte "extreme" Rechte beschränkt. Deswegen heißt die Losung nicht nur beim Aufmarsch der Rechten im Januar, nicht nur bei Rechtsrockkonzerten, nicht nur bei Deichbauhelfer*innen bei Hochwasser: Kein Fußbreit den Faschisten! Und zwar ohne Wenn und Aber.

[12] https://www.facebook.com/stoerungsmelder/posts/10151675097944846

Anhang:


Kommentar Wulf Gallert, Fraktionschef der LINKEn im Landtag (Quelle: Facebook):  "Die Hochwasserkatastrophe erreicht nun in Magdeburg ihren Höhepunkt und sie scheint schlimmer zu werden als ursprünglich erwartet- gleiches gilt für den Norden des Landes.
Das da bei vielen die Nerven blank liegen vor allem bei direkt Betroffenen ist mehr als verständlich. Trotzdem helfen uns unüberlegte Vorwürfe und Panik nicht weiter.
Ich glaube,daß die notwendige Evakuierung von Teilen Magdeburgs tatsächlich vor 4 Tagen noch nicht erkennbar war-auch nicht vom Oberbürgermeister. Ihm das jetzt vorzuwerfen, hilft gar nichts.
Schwieriger ist das Aufblasen eines völlig bescheuerten Schreibens in dem Anschläge auf Deichanlagen angekündigt werden sollen.
Der Innenminister Stahlknecht ruft nun den Gefahrennotstand deshalb aus. Ich halte das in der jetzigen Situation für grundfalsch. Wenn jetzt alle anfangen nach potentiellen Terroristen in dieser Situation zu suchen, ist das wirklich kreuz gefährlich. Warum macht der das jetzt- Selbstdarstellung, Fehleinschätzung- keine Ahnung jedenfalls gefährlich."


Kommentar Sebastian Striegel, MdL für die Grünen im Landtag (Quelle: Facebook): "Am meisten beunruhigt mich an der Geschichte, wie wenig reflektiert die deutsche Gesellschaft, angeführt von ihren Sicherheitspolitikern und vermeintlichen Experten wie Holger Stahlknecht (CDU), auf eine solche dämliche Provokation reagiert. Der Innenminister ruft Terrorgefahr aus, einige Medien starten den Hype und am Ende blöken tausende Dumpfbacken ihre Mordaufrufe und Lynchphantasien in die Welt hinaus. Nachdenken wäre angesagt, bevor auf eine solche Provokation reagiert wird."

3 Kommentare:

  1. http://de.indymedia.org/2006/03/142840.shtml

    Wie passt das dazu?

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    1. ...ist genau so ein Fake, wie das angebliche "Bekennerschreiben", das jetzt rumgeistert. Unbegreiflich, dass solch ein Schwachsinn so eine Welle auslösen kann. Sogar Politiker nehmen diese Wische ernst und sie gehen wie ein Brandfeuer durch die Medien. Das Tollhaus wird immer größer. Als sei das Hochwasser nicht schon tragisch genug. Vollpfosten, die sowas verbreiten, Ideoten, die sowas glauben, und für die Schreier nach Lynchjustiz und das Mordgebrüll im Netz finde ich gar keine Worte mehr. Cybermobbing gegen links aller erster Güte....

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  2. http://dokmz.wordpress.com/artikel/2013-2/germanophobe-flutbrigade-nicht-mehr-als-ein-brauner-propaganda-gag/

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