Montag, 22. September 2014

Asylkompromiss 2014: „Wir können ja gar nicht mehr tun, denn wir Deutsche sind ja selber arm.“?

Am 19. September hat der Bundesrat über die von der Regierung geplanten Reformen im Asylrecht abgestimmt. Genauso wie der „Asylkompromiss“ im Jahr 1993, hat auch dieser neue „Asylkompromiss 2014“ vor allem ein Ziel: Die Zahl der in Deutschland als asylberechtigt anerkannten Geflüchteten zu verringern. [1]

Im Zuge der Debatte darum, liest man jetzt in den Kommentarspalten der Zeitungen und sozialen Netzwerke immer wieder Meinungen einer ganz bestimmten Kategorie: „Wir können ja gar nicht mehr tun, denn wir Deutsche sind ja selber arm.“
 
 
 
 
   
Von besonneneren Kommentator*innen kommt dann manchmal als Antwort der Witz:


Schauen wir uns doch mal an, wie groß eigentlich die Kekse sind, die "wir"* verteilen könnten:

1. "Wir" produzieren genug zu Essen, um viel mehr Menschen ernähren zu können. Ungefähr die Hälfte der produzierten Nahrungsmittel werden irgendwo auf dem Weg zum menschlichen Mund aussortiert und weggeworfen. [2]

2. "Wir" haben genügend Wohnraum, um Geflüchtete (dezentral) wohnen lassen zu können. Es gibt zum Beispiel unzählige fast ausgestorbene Dörfer und Kleinstädte im deutschen Osten, in denen Menschen unterkommen könnten. Deutschlandweit stehen ungefähr 1,7 Millionen Wohnungen leer. [3] Nicht alle davon sind in gutem Zustand, stimmt. Aber es kommen ja mit den Geflüchteten auch Maurer*innen, Zimmerleute, Tischler*innen, Dachdecker*innen und andere Handwerker*innen. Menschen, die arbeiten können und wollen. Wenn man ihnen die Chance und etwas Hilfe geben würde, könnten sie alte Häuser renovieren, um für sich und ihre Familien ein neues Heim zu schaffen.

Um einen solchen Plan umzusetzen, müsste man natürlich die kleinen Städte und ländlichen Siedlungsgebiete attraktiv machen – für Zuwanderer*innen und deutsche Staatsbürger*innen gleichermaßen. Das erfordert eine Stärkung der lokalen Wirtschaftskreisläufe bei gleichzeitigem Schutz der Umwelt, eine gute infrastrukturelle Anbindung durch Eisenbahn und Nahverkehr, es erfordert den Aufbau kleiner lokaler Schulen und Kindertagesstätten, sowie eine Förderung des kulturellen Lebens.

3. Kleidung und andere tägliche Gebrauchsgegenstände haben "wir" auch im Überfluss. Leider vor allem deshalb, weil "wir" sie zu Billigpreisen aus armen Ländern importieren, auf dem Rücken der Arbeiter*innen dort.
"Wir" könnten all das aber auch selbst herstellen.
Das Internet ist voll von Leuten, die hobbymäßig schneidern, handarbeiten und ganz viele andere Sachen selber herstellen. Und sie würden gern noch mehr tun, wenn sie das Geld, die Zeit und die Ausbildung dazu hätten.
"Wir" haben eine jahrhundertelange Handwerkstradition, nur leider können sich heutzutage nur noch Wenige die nicht in Massenproduktion hergestellten Dinge leisten.
"Wir" könnten aber durch eine Umgestaltung der Arbeitswelt, durch Arbeitszeitverkürzung, höhere Stundenlöhne und für jede*n zugängliche Aus- und Weiterbildungsprogramme die Produktion zum Teil wieder in die Hände des*der Einzelnen legen.

4. Für alles, was man nicht selbst herstellen kann, oder was in großen Mengen gebraucht wird, haben "wir" bereits eine ausgesprochen produktive Industrie. So produktiv, dass "wir" seit 1952 jährlich mehr Güter exportieren als importieren. Im Jahr 2014 hat dieser Überschuss sogar solche Ausmaße erreicht, dass die EU Deutschland dafür gerügt hat. [4]
Wie einfach wäre es doch, die Produktion ein wenig herunterzufahren und vornehmlich für den Eigenbedarf zu produzieren. Und wenn mehr Menschen nach Deutschland kommen, können "wir" beruhigt sein: Luft nach oben ist allemal.

5. "Wir" haben genügend Geld.
Das Nettoprivatvermögen der Deutschen beträgt ca. 6,3 Billionen Euro [5]. Ziehen "wir" die Staatsschulden von ca. 2 Billionen Euro [6] ab, dann bleiben 4,3 Billionen Euro übrig.
Würde man jedem*r Bundesbürger*in vom Säugling bis zum Greis ein Vermögen von 10.000€ zugestehen, so blieben noch  3,49 Billionen Euro, die man nutzen könnte.

Fun Fact: 
Mit 4.000 Dollar (3.112 €) Vermögen gehört ein Erwachsener bereits zur reicheren Hälfte der Menschheit. [7]

Bekäme nun jede*r Geflüchtete, die*der nach Deutschland kommt, monatlich 1.000 Euro bar auf die Kralle, so könnte man  allein von dem im Moment auf Konten herumgammelnden Geldvermögen …
… zusätzlich zu den bereits hier lebenden Menschen noch 29 Millionen mehr für 10 Jahre lang versorgen, wobei diese sich die ganze Zeit in die Hängematte legen könnten und keinen Finger krumm machen müssten.
 
In der Realität wäre das natürlich Quatsch, da diese Menschen selbstverständlich hier arbeiten und am Wirtschaftskreislauf teilnehmen würden. Gäbe man ihnen wie jedem Bundesbürger pro Person 10.000€, so könnten "wir" theoretisch 349 Millionen zuziehende Menschen mit diesem Startkapital ausstatten und sie dann selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen lassen.

Fun Fact:
Ende 2012 lebten in Deutschland 571.000 Geflüchtete [8]. Selbst wenn es mittlerweile mehr sind, wäre die Zahl nicht mal annähernd in einem "kritischen" Bereich.

6. "Wir" haben die Kapazitäten, diese Menschen in "unsere" Gesellschaft zu integrieren.

Ein beliebtes Argument ist ja, dass eine massenhafte Zuwanderung kulturelle Spannungen hervorrufen würde. Und ja – es gibt natürlich manchmal Probleme, wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, mit unterschiedlichem Bildungsstand und unterschiedlichen Lebenserfahrungen aufeinander treffen.
 
Natürlich kommen einige der Geflüchteten aus Milieus, in denen es Gewalt, Unterdrückung und wenig Bildung gab, in denen die Gesellschaft verroht und die staatliche Ordnung zerfallen war. Und natürlich wirkt sich das auf die Wertvorstellungen und das Verhalten dieser Menschen aus.

Genauso, wie sich der wachsende soziale Druck und das heruntergekommene Bildungssystem auf die Wertvorstellungen und das Verhalten der Deutschen auswirkt.

Menschlichkeit ist keine Frage der Herkunft. Sie ist eine Frage der Sozialisation. Und wenn die Sozialisation bisher unbefriedigend verlaufen ist, so muss man den Betroffenen Hilfestellung geben, sich zu verändern. Geflüchteten und Deutschen gleichermaßen.

Es gibt hier so viele Menschen, die gern in sozialen Berufen arbeiten wollten, und sich durchaus auch in der Integration von Zuwanderern*innen engagieren würden. Oder auch für eine Verbesserung der Gesellschaft im Allgemeinen. Sie brauchen nur eine fundierte Ausbildung und einen auskömmlichen Lohn und die Sache läuft.
 
Jährlich bewerben sich mehr Leute auf Studiengänge für "Soziale Arbeit" oder "Medizin" oder "Psychologie" als es Plätze gibt. Also müssen diese Plätze geschaffen werden und die ausgebildeten Fachkräfte können dann diejenigen in "unserer" Gesellschaft unterstützen, die in irgendeiner Form Probleme haben.

Nein, all das wäre absolut kein Problem. "Wir" haben bereits eine gute Infrastruktur, "wir" haben Geld und einen halbwegs funktionierenden Verwaltungsapparat. "Wir" müssten es alles bloß besser und menschlicher gestalten und endlich die vorhandenen Güter gerecht verteilen. Es fehlt einzig und allein am politischen Willen. An nichts anderem.


*Wir lehnen die Dichotomie zwischen dem nationalen Konstrukt "Wir" und "den anderen" (Flüchtlingen, Nicht-Staatsbürger*innen etc.) ab, weil sie eine Unterscheidung dessen vornimmt, was nicht zu unterscheiden ist, und somit eine Rangfolge von Wertigkeit festlegt. Weiß und deutsch = gut, schwarz und Flüchtling = nicht gut. Dies ist eine von vielen Ursachen für Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus ist. Für uns gibt es hingegen nur gleichwertige Menschen.

Quellen:

[7] „Our estimates for mid-2013 indicate that once debts have been subtracted, an adult requires just USD 4,000 in assets to be in the wealthiest half of world citizens.“ aus https://publications.credit-suisse.com/tasks/render/file/?fileID=BCDB1364-A105-0560-1332EC9100FF5C83, Seite 10, linke Spalte

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