Montag, 27. August 2012

20 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen - Nachlese zur Gedenkdemo am 25.8.

Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 war der traurige Höhepunkt einer Gewaltserie gegenüber Asylsuchenden und Migrant*innen in den frühen 90er-Jahren. Die Angriffe auf das Sonnenblumenhaus avancierten zum Symbol für rassistisch motivierten Hass und Gewalt gegenüber Mitmenschen. Mehrere hundert Neonazis wüteten und brüllten ausländerfeindliche Parolen. Mehrere tausend Anwohner*innen, applaudierten dem Lynchmob, als Molotowcocktails in das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen und in die Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende (ZAST) flogen. Die staatlichen Institutionen ließen den Mob aus Anwohner*innen und Neonazis, die aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren, gewähren. Die Regierung Kohl und die SPD "belohnten" die Rassist*innen für das Vorgehen gegen „ausländische“ Mitmenschen und beugten sich letztlich deren Forderungen, indem sie 1993 mit dem sogenannten "Asylkompromiss" das Asylrecht faktisch abschafften

Dies stellte eine beispiellose Verhöhnung der Opfer dar. Die Opfer wurden hier nicht zum ersten Mal zu Täter*innen gemacht.
Schon in Hoyerswerda '91 gab die Politik dem rassistischen Mob de facto Recht. Besonders widerlich: genau 20 Jahre danach erscheint ein Artikel im "Qualitätsmedium" FAZ, in dem der Autor Jasper von Altenbockum genau in dieselbe Kerbe schlägt und dem Mob huldigt:
"Erst „Lichtenhagen“ brachte manche dieser Sozialalchimisten zur Besinnung. Erst der „Asylkompromiss“ des Jahres 1993, erst die Änderung des Grundgesetzes und erst die Regulierung der bis dato mehr oder weniger schrankenlosen Einwanderung haben es möglich gemacht, in die Nähe eines gesellschaftlichen Konsenses über Rechte und Pflichten in einem Einwanderungsland zu kommen – ja, erst einmal darüber, ob Deutschland überhaupt ein Einwanderungsland ist oder nicht." [1]

Nicht nur diese perverse Rechtfertigung des menschenverachtenden Mobs zeigt, dass Rassismus keinesfalls ein Phänomen der '90er Jahre, sondern heute noch stets präsent ist. Die menschenverachtenden Ansichten, die sich im bewussten Inkaufnehmen des Todes von Menschen, bis hin zu den gezielten Tötungen durch die NSU-Mörder zeigten, sind unmittelbare Folgen von Rassismus. Und der wurzelt tief in der Mitte der Gesellschaft, keineswegs nur am rechten Rand.


6500 Menschen ziehen durch Lichtenhagen
So rief das Bündnis "20 Jahre nach den Pogromen – Das Problem heißt Rassismus" zu einer Demonstration 25.08.2012 auf, zu der sich ca. 6500 Antirassist*innen aus dem ganzen Bundesgebiet einfanden und gegen Rassismus und Abschiebepolitik Gesicht zeigten. Die Linksjugend ['solid] Sachsen-Anhalt stellte für Antirassist*innen aus ganz Sachsen-Anhalt einen Bus zur Verfügung, der bereits Tage vorher ausgebucht war. Angekommen zur Mittagszeit, zeigte sich ein breites Spektrum an Organisationen, Vereinen, linken und antifaschistischen Gruppen, Parteijugenden und Einzelpersonen. Von Schüler*innen bis Rentner*innen, von den JuSos bis hin zur MLPD, gingen zahlreiche Menschen auf die Straße - nur leider so gut wie keine Lichtenhägener. Diese machten es sich lieber mit Fotoapparat und Kissen auf der Fensterbank gemütlich. Gegen 14:00 Uhr startete die Kundgebung und die anschließende Demonstration vom S-Bahnhof Lütten-Klein Richtung "Sonnenblumenhaus", friedlich und lautstark. Nach 4 km Strecke endeten wir schließlich in der Mecklenburger Allee. Dort hörten wir noch einigen, teilweise sehr emotionalen, Redebeiträgen zu, wie dem von Mouctar Bah, der sich seit Jahren für seinen ermordeten "Bruder" Oury Jalloh und dessen Familie einsetzt. Dann ging es ab 18:00 Uhr mit einem Konzert unter dem Titel "Beweg dich für Bewegungsfreiheit" los. Anwesend waren Kobito, Berlin Boom Orchestra, die Rostocker Band FeineSahneFischfilet und Frittenbude, welche für die meisten sicherlich den Höhepunkt darstellten. 
Am Konzert hatte es im Vorfeld einiges an Kritik gegeben. Dies stelle keine geeignete Form des Gedenkens dar und sei diesem Anlass unwürdig. Wer diese "musikalische Abschlusskundgebung" erleben durfte, konnte allerdings einen anderen Eindruck bekommen. So verzichteten nicht nur alle Bands auf „Party- und Saufsongs", sondern schlossen inhaltlich immer wieder an den Anlass des Konzertes an. Insbesondere Filou vom Berlin Boom Orchestra und FeineSahneFischfilet ist hier eine würdige inhaltliche Verknüpfung gelungen.

Konzeptionell haben sich die Veranstalter*innen von der Linksjugend ['solid] Mecklenburg-Vorpommern außerdem einiges einfallen lassen, um das Konzert nicht zu einer reinen Party- und Tanzveranstaltung werden zu lassen. So verlas ein Darstellerduo einen "Asylmonolog", begleitet von dramatischer Cello-Musik. Später gab es noch einen Redebeitrag eines deutsch-vietnamesischen Politik- und Kulturwissenschaftlers, der 1992 einen Leserbrief an die TAZ schrieb und eng verbunden ist mit einigen derer, die damals im Haus waren, als die Rassist*innen angriffen. Dieser Beitrag war äußerst bemerkenswert, als er doch an Fahrt aufnahm, als einige schaulustige Antifaschist*innen lieber zu einer brennenden Mülltonne rannten, als ihm zuzuhören. Er rief in die Menge "Hey Leute, hiergeblieben, hier vorne spielt die Musik, guckt mich an! Seid ihr hier hergekommen, um etwas mitzunehmen, um vielleicht was zu lernen oder seid ihr nur hier, um euch selbst zu feiern?" Der Mann hatte natürlich vollkommen Recht. Nur wenige schienen ihm zuzuhören. Dabei hatte er tatsächlich viel zu sagen, über das alle Anwesenden nachdenken sollten. Er begnügte sich nicht damit, die Anwesenheit so vieler Antirassist*innen zu loben, nein, er übte auch harsche Kritik. Warum hat das Bündnis beispielsweise nicht mit den migrantischen Communities, Gruppen und Verbänden zusammengearbeitet? Warum nicht mit den vietnamesischen Vereinen? Und warum bringt mensch eine Gedenktafel am Rathaus an, auf der kein Wort von den Vietnames*innen, die ja die größte Opfergruppe darstellten, zu lesen ist? Ein Appell wird uns besonders in Erinnerung bleiben: "Kommt weg von eurem weißen Standpunkt, von eurem weißen Fokus, arbeitet zusammen mit den Coloured People, bildet Netzwerke, alle zusammen. Dann können wir den Rassismus in uns selbst besiegen!" (sinngemäß)

Nach einem krassen und lauten Auftritt von Frittenbude war es dann so weit: wir fuhren gegen 22:30 Uhr wieder nach Magdeburg und Halle zurück. Die allgemeine Erschöpfung ließ sich an den vielen Schlafenden im Bus deutlich ablesen. 

Was bleibt unterm Strich? 
...eine erfolgreiche Demo, die in ausreichender und würdiger Art und Weise Kritik, Gedenken, Gedanken und Wut über den rassistischen Konsens in diesem Land bekundete, und bunte Veranstaltungen sorgten für die Gewissheit, ein starkes und deutliches Zeichen gegen Hass und Gewalt gesetzt zu haben. Gleichzeitig war es eine alternative Veranstaltung zur (stadt)offiziellen Kundgebung am 26.08.2012. Die bürgerliche Symbolpolitik machte lieber die DDR für die Probleme verantwortlich, anstatt die Ursachen in der Mitte der Gesellschaft zu verorten. Im Vorfeld diffamierte der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern Lorenz Caffier die antirassistische Großdemonstration als "linksextremistisch" zu der "2000 Krawallmacher" kommen würden. Er faselte von einem Großaufgebot der Polizei, damit nie wieder passieren würde, was 1992 passierte, setzte also die Neonazis von damals mit Antifaschist*innen gleich, die - und das muss mensch immer wieder erwähnen - damals die Nazis zum Teil vertreiben konnten, was der Polizei nicht gelang. Dennoch zog es ihn zum zeitgleich in Warnemünde stattfindenden Landespresseball, wo er die „Sorgen“ mit Sekt wegspülen konnte. Oder Joachim Gauck, welcher eine 20 jährige "Deutsche Eiche" vor dem Sonnenblumenhaus pflanzen ließ - ein Symbol für Nationalismus, Militarismus und germanischen Mythos - der zwar keine schlechte Rede hielt, aber auch keine besonders gute.[1] Auch die euphemistische Umbenennung in "Friedenseiche" kann diesen Fehltritt nicht ausgleichen.


"Wehrhafte Bürger", racial profiling und eine Nacht auf dem Bahnhof
Drei besonders krasse Vorfälle dürfen auf keinen Fall unerwähnt bleiben. Als einige linke Protestierende vom Bündnis "Rassismus tötet" unter lauten "Heuchler-Rufen" ein Transparent mit dem Bündnisnamen entrollten, echauffierten und empörten sich die Bürger*innen so sehr, dass sie gewaltsam das Transparent zerrissen, Leuten den Mund zuhielten oder mit Regenschirmen auf sie einschlugen. Setzten sie quasi live um, was Gauck vorne erzählte, nämlich die "wehrhafte Demokratie" bzw. das, was Gauck dafür hält? Nach ein paar Minuten entspannte sich die Situation. Antifaschist*innen kamen mit Bürger*innen in's Gespräch und konnten darlegen, warum sie Gauck einen Heuchler schimpften: Gauck adelte noch vor gar nicht allzu langer Zeit den Brandstifter Sarrazin als "mutig", erklärte jüngst, der Islam gehöre nicht zu Deutschland und verwendet in allen Reden die üblichen bipolaren Dichotomien vom "Wir" und "den Anderen", die Rassismus schüren und die Abgrenzung vom vermeintlich Fremdem fördern. So sagte er bei seiner Rede vor dem Sonnenblumenhaus: "Deshalb werden wir wachsam bleiben. Das gilt für Lichtenhagen genauso wie für Hoyerswerda, das gilt für Mölln, für Solingen und für jeden anderen denkbaren Ort, wo Einheimische und Fremde zusammenkommen." [3] Zudem bagatellisierte der selbsternannte DDR-Bürgerrechtler die Pogrome, indem er von "ausländerfeindlichen Ausschreitungen" sprach und dabei unerwähnt ließ, dass der brandschatzende Mob aus Neonazis und weißer Bevölkerung zum Töten bereit war.
Der zweite Vorfall ereignete sich kurz vor der bürgerlichen Veranstaltung, als zwei Mitglieder des deutsch-afrikanischen Freundschaftsvereins Daraja e.V., die offizielle Einladungen hatten, Opfer der rassistischen Praxis des "racial profiling" wurden. Trotz Vorzeigens der hochoffizösen Einladungen verweigerten ihnen die Polizist*innen den Eintritt. Auf Nachfrage, was das solle, reagierte kein Mensch. Ein Video schildert den ekelhaften Vorfall: http://www.youtube.com/watch?v=5EYtYwUOOqo&feature=youtu.be. [4]

Die dritte Begebenheit widerfuhr einigen Wittenberger Genoss*innen, die mit dem Zug nach Rostock gekommen waren. Auf der Rückfahrten zerbrachen einige Spinner eine Fensterscheibe, woraufhin der Zug für eine Stunde halten musste, um die Polizei an Bord zu lassen. Zunächst war unklar, welchen Auftrag die behelmten Einheiten hatten. Dies wurde den Zugreisenden - zu diesem Zeitpunkt befanden sich viele Antifaschist*innen im Zug, die auch in Rostock waren - dann in Berlin bewusst, als sie beim Einfahren in den Hauptbahnhof eine komplette Hundertschaft sahen, die auf sie wartete. Was danach geschah, könnt ihr hier bei unserem Jupo Marcel nachlesen, der den Vorfall auf Facebook dokumentiert hat [5].

Wir vergessen nicht.
Am Ende bleibt uns nur noch zu sagen: danke an alle Mitgereisten, danke an die Landespartei, die den Bus finanziert hat, danke an die Organisator*innen von Demo und Konzert, danke an alle Beteiligten. Wir werden uns Faschist*innen und Rassist*innen weiterhin entschlossen in den Weg stellen und Rassismus, Faschismus und Nationalismus auf allen Ebenen bekämpfen. Wir vergessen Rostock-Lichtenhagen niemals.
[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/terror-gegen-asylanten-lichtenhagen-11866872.html
[2] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/08/120826-Rostock.html
[3] ebd.
[4] http://www.youtube.com/watch?v=5EYtYwUOOqo&feature=youtu.be
[5] https://www.facebook.com/notes/marcel-wiebach/demo-lichtenhagen-und-was-danach-passierte/495512593794769

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